Aeronautik, Bäume, Gletscher und Unbekanntes – ein biosphärischer Blick auf Tegel
Als Berliner Stadtbewohnerin, geht morgens mein Blick zuerst aus dem Fenster zum Hof. Ich schaue nach nichts Bestimmtem. Vielmehr suche ich nach Bestätigung, dass alles noch beim Alten ist. Heute allerdings steht vor meinem Wohnungsfenster ein Flugobjekt in der Luft (Flughöhe circa 20 Meter ü NN). Es steht nicht still, sondern dreht sich in einer scheinbar endlosen Pirouette um sich selbst. An den hochgewölbten Propellern hält es sich minutenlang auf meiner Augenhöhe. Die Flugblätter sind aus Zellulose. Der Luftkreisel ist komplett organisch: es ist ein Fruchtstand der Sommer-Linde.
Die Begegnung mit einem Teil der Linde, unterbrach meine routinierten Bewegungen des morgendlichen Aufbruchs. Schnell aus anderen Pflanzen einen Tee machen und los. Mit dem Biosphäre Berlin Projekt-Team sind wir in Tegel zur transdisziplinären Erforschung der vermeintlichen Gegensätze von “Natur” und “Kultur” verabredet. Auf dem Weg von der City-West nach Tegel, drehe ich einen Lindenpropeller in meinen Händen. Was kann die Linde über diese Stadt und das Leben in ihr erzählen?
Die Wissenschaft schätzt, dass sich ungefähr 8,7 Millionen Arten den Planeten Erde teilen, wovon nur ein Bruchteil von etwa 10 Prozent erfasst und beschrieben ist. Mir wird bewusst, wie gering das Bekannte gegenüber dem Unbekannten aus der menschlichen Perspektive ist und wie wenig ich über Tegel und seine Natur und Kultur weiß.
Der Luftkreisel lebendiger Art von heute Morgen begleitet mich an den international bekanntesten Ort Tegels: der mittlerweile geschlossene Flughafen TXL. Bis vor Beginn des Biosphere Berlin Projektes wusste ich nicht, dass die Geschichte der Luftfahrt in Tegel mit einer meteorologischen Station begann [1]. Mir gefällt, dass der Auslöser für das Aufsteigen von Heißluftballons vom Tegeler Feld die Erforschung der Atmosphäre war. Das Gelände wurde bereits als Schießplatz militärisch genutzt, als die aeronautische Abteilung des königlichen meteorologischen Instituts im Jahr 1900 in Betrieb genommen wurde. Die Tegeler aeronautische Station lag nur 8 km vom Berliner Zentrum (Spittelmarkt) entfernt umrahmt von über 20 m hohen Kiefern zwischen der Jungfernheide und dem Tegeler Forst, sozusagen mitten in der Biosphäre. Die Biosphäre ist der gesamte mit Lebewesen besiedelte Raum der Erde. Die Atmung der Lebewesen (Kiefern, Ameisen, Wildschweine etc.) bedeutet einen Austausch von Kohlendioxid und Sauerstoff mit der Atmosphäre, der Luftschicht der Erde. Alle Sphären sind miteinander verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig. Ob die wissenschaftlichen Ballonfahrten um die Jahrhundertwende diese Abhängigkeiten erkannten, ist ungewiss.
Die Drachenballonstation des Aeronautische Observatoriums lieferte vor 120 Jahren die ersten Temperaturmessungen für Berlin vom Tegeler Forst aus. Sogenannte „Ballons-sondes“, unbemannte Gummiballons ausgestattet mit Messapparatur, stiegen bis zu 20.000 Metern auf. Aufgrund des Drucks zerplatzten die Ballons in der Höhe und die Geräte zur Aufzeichnung der Wetterdaten fielen zwar von Fallschirmen gebremst, aber komplett unkontrolliert auf die Erde. Verstreut im Tegeler Forst und darüber hinaus, waren die Meteorologen auf die Zusammenarbeit der Bevölkerung angewiesen. Für Fund und Bergung der Instrumente vergab das Observatorium eine Belohnung von 5 – 20 Mark.
Ob der Wald mit den Wolken spricht, beziehungsweise welchen Einfluss er auf das Klima hat, war wahrscheinlich kaum eine Forschungsfrage zu der damaligen Zeit. Die Bäume waren vielmehr ein Hindernis für das Wiederauffinden der Messgeräte sowie das Wiedereinholen der Drachenballons und deren tausende Meter lange Kabel, an denen sie in die Atmosphäre gelassen wurden. Der Tegeler Standort des Aeronautische Observatoriums wurde bereits 1905 aufgegeben. Ab den 30er Jahren verschob sich offenbar das Interesse von der Erde in Richtung Mond: der Raketenflugplatz Berlins entstand. Während des Kalten Krieges war Tegel Militärflugplatz der französischen Alliierten, der vor allem in den Jahren 1948/49 für die Berliner Luftbrücke eine große Bedeutung hatte. 1974 eröffnete der Flughafen Tegel für die Zivilbevölkerung. Der Freien Universität Berlin diente das Flugfeld als Standort für eine der Berliner Wetterstationen. Die Geschichte der meteorologischen Messungen am Flughafen Tegel ging mit der Schließung des legendären „TXL“ vor zwei Jahren zu Ende. Heute, entwickelt die landeseigene Tegel Projekt GmbH einen neuen, klimaneutralen Stadtteil: „Berlin TXL soll ein Modellquartier für nachhaltige urbane Innovation“ mit einer Vision einer „besseren, weil sauberen und sozialen Stadt, […] naturnah und respektvoll im Umgang mit Ressourcen“ werden. In einem „Dreiklang aus Wissenschaft, Forschung und Industrie“ sollen 20.000 Arbeitsplätze, 5.000 Studienplätze, 200 ha Grünfläche, und 5.000 Wohnungen, „– umgeben von viel Natur“ entstehen [2]. Doch was ist das für eine Natur? Wie ist sie entstanden und nach welchen Kriterien verändert sie sich?
„Wie verhält es sich mit der Koexistenz in einer Welt, in der das Unbekannte überwiegt?“
Von eiszeitlicher Entstehung zur anthropogenen Veränderung der Landschaft
Bei den Tegel-Spaziergängen, die wir im Rahmen von Biosphere Berlin unternommen haben – oder bei der Betrachtung einer Karte – fällt das Wasser auf: Havel, Tegeler See, Große Malche und zig weitere Seen sind, wie die Berlin-Brandenburger Landschaft insgesamt, durch drei große Eiszeiten entstanden. Während der Weichsel-Kaltzeit – der vorerst letzten Eiszeit, die etwa 100.000 Jahre andauerte – war Deutschland zwischen den von Skandinavien vorrückenden Gletschern und den Alpengletschern aus dem Süden, „von einer baumlosen Steppe bedeckt. Herden von Mammuts, Bisons und Wildpferden zogen durchs Land. [3]“ Mit dem Abtauen der hunderte von Meter dicken Eismassen vor etwa 12.000 Jahren entstanden Schmelzwasserabflussrinnen, großflächige Sanderflächen sowie das Berliner Urstromtal und somit die heutige Form Berlins. Die Seen sind meist aus verbleibenden Eisresten, dem „Toteis“ hervorgegangen. Mit Beginn der bis heute andauernden Warmzeit, entwickelten sich in den feuchten Niederungen und im flachen Randbereich von Seen ausgedehnte Moore. Die Moore prägten die Landschaft dermaßen, dass der Name Berlin auf den sumpfigen Untergrund hinweist: “brlo” ist alt-slawischen Ursprungs und bedeutet etwa Sumpf, Morast, feuchte Stelle. Auf den Kies- und Sandflächen kam der Wald durch den Temperaturanstieg zurück. Mit gemäßigtem und stabilem Klima kamen auch die Menschen. Sie gründeten im 12. Jahrhundert unter anderem Tegel, dessen Dorfkern und Anger bis heute erhalten sind [4]. Sie veränderten die Landschaft, in der später Berlin entstehen sollte, bereits vor etwa 5.000 Jahren. Seit dem Mittelalter verlegten die Menschen Flüsse für den Siedlungsbau oder stauten sie für den Mühlenbetrieb. Ob sie sich diese Technik bei dem Biber abgeguckt haben, der nun wieder die Tegeler Gewässer bevölkert, ist ungewiss, aber möglich. Die Siedler nutzten den Wald als Ressource für Holz, gewannen Teer und Honig und rodeten den Wald großflächig für Ackerbau und Viehzucht. Mit der Gründung Berlins vor knapp 800 Jahren wurde das damals noch sumpfige Urstromtal für den Städte- und Verkehrsbau weithin trockengelegt. Auch für die Landbewirtschaftung sind Sümpfe entwässert worden. Die veränderten Grundwasserverhältnisse beeinträchtigen die Entwicklung der Moore bzw. lassen sie verschwinden.[5] Global gesehen, speichern Moore auf sehr kleiner Fläche mehr Kohlenstoff als alle Wälder der Welt. Doch ohne Moore, kein Speicher: In Mitteleuropa wurden weit über 90 % aller Moorflächen trockengelegt [6].
Als Brutstätte von Mücken, Blutegeln, Nymphen und anderen Moorgeistern wurde den Feuchtgebieten viel Schlechtes und Unheimliches nachgesagt. Der Übergang von Land und Süßwasser macht Sümpfe zu einem außergewöhnlichen Milieu, dessen Produktivität vergleichbar ist mit der von den Ökosystemen der Regenwälder. Moore sind nicht nur Kohlenstoffsenke, sondern Gebiete mit einer besonderen Artenvielfalt, da sie Lebensräume für seltene, gefährdete und hochspezialisierte Arten bieten. Welche Arten konnten sich in den Hunderttausenden Jahren der eiszeitlichen Geschichte entwickeln? Welche Arten sind aus der 800-jährigen stadtnahen Kulturlandschaft Tegel bereits verschwunden? Wieder bin ich mit Unbekanntem konfrontiert. Zu Beginn hatte ich die gesamte geschätzte Artenvielfalt von weltweit 8,7 Millionen existierenden Arten von Lebewesen (mit Zellkern; keine Bakterien) betrachtet. Innerhalb dieser wird die Welt der Blütenpflanzen auf circa 450.000 Arten beziffert [7]. Taxonomisch sind nur 350.000 Blütenpflanzenarten bekannt und akzeptiert [8]. Was bedeutet diese Wissenslücke von etwa 100.000 Arten? Zumal nur etwa die Hälfte der sogenannten bekannten Arten von Blütenpflanzen ausreichend bekannt ist, dass sie für konkrete Naturschutzmaßnahmen ergriffen werden können [9]. Von den weltweit vom Aussterben bedrohten Pflanzenarten (40 %), bemerkt die Wissenschaft nur einen geringen Teil des Erlöschens der Existenzen pflanzlicher Lebensformen. Wie verhält es sich mit der Koexistenz in einer Welt, in der das Unbekannte überwiegt? Inwieweit „wissen“ die Pflanzen und Tiere, die in einem Gebiet zur gleichen Zeit leben, voneinander und kennen somit auch die uns Menschen unbekannten Arten? Und hier in Tegel: Welche „Erinnerung“ haben Tegels markante Baumwesen an die damaligen Sanderflächen?
Um 1800, als die Humboldt-Brüder die schon mächtige Eiche auf den Namen “Dicke Marie” tauften, hatte sie als Solitärbaum einen unverstellten Blick. Ursprünglich auf einer offenen Wiese unweit des Seeufers der Großen Malche als Grenzbaum zwischen Tegel und Heiligensee gepflanzt, ist die heute etwa 600 bis 800 Jahre alte Stiel-Eiche vom Tegeler Forst umgeben [10]. Bei einer unserer Berlin Biosphere Exkursionen näherten wir uns der Dicken Marie und verbrachten eine gewisse Zeit mit ihr und ihren Wurzeln, die die nährstoffarme sandige Düne bis zum Grundwasser durchdringen, wo sie auch umliegende feuchte Senken erreichen. Das nahe Ufer des Sees konnten wir jedoch aufgrund der vielen Baumnachbarn nicht sehen. Mir fällt es schwer, mir den weiten Horizont, der sich einst vor der jungen “Marie” erstreckte, vorzustellen. Welches “Gedächtnis” hat dieser älteste Baum Berlins bezüglich der mittlerweile verschwundenen Lebensgemeinschaften des Offenlandes und der ausgedehnten Feuchtgebiete? Und wie können wir Menschen uns dem Blick der Pflanzen und Tiere auf diesen Teil der Biosphäre annähern?
Tegel: Ein dem Menschen unbekannter Teil der Biosphäre?
Die Beziehung zwischen Mensch und Natur könnte klarer nicht sein: das Überleben des Menschen ist von der Biosphäre, von der er auch ein Teil ist, komplett abhängig. Sauerstoff, Lebensmittel, Futtermittel, Fasern, Medizin, und Baustoffe werden von den Pflanzen produziert. Obwohl sie die Alleinversorger des Menschen sind, hat der Mensch beinahe Drei Viertel der Erdoberfläche verändert und ist ein erheblicher Störfaktor für die Tier- und Pflanzenwelt [11]. Heutzutage, etwa einhundert Jahre nach den ersten meteorologischen Untersuchungen am Flugplatz Tegel, sind viele Wirkzusammenhänge zwischen dem Klima, der Biosphäre sowie der Nutzung von Landflächen geklärt: Die Wissenschaften haben nachgewiesen, dass die Landnutzung in erheblichem Maße zum Klimawandel beiträgt, und dass gleichzeitig der Klimawandel die Art, Qualität und Verfügbarkeit von Landflächen verändert [12]. Dieses Wissen ist jedoch kaum in den alltäglichen Bewegungen und Entscheidungen der Menschen auffindbar. Flächenversiegelung, Zerschneidung und Zerstörung von Lebensräumen geschehen im Sekundentakt, in einer Welt, in der es weiterhin primär um ein wirtschaftliches Wachstum anstatt um ein Wachsen lassen von Wissen, ökologischen Verflechtungen oder Lebendigkeit geht.
Gleichzeitig können gewisse Arten von “traditionellen” Landnutzungen die Artenvielfalt erhöhen. Die Wiese ringsum die “Dicke Marie” existiert nicht mehr. Bei einem unserer experimentellen Spaziergänge besuchten wir die Streuobstwiese nahe der Revierförsterei Tegel. Unsere Teamkollegin Katja Arzt weitete unseren Blick auf das vielfältige Leben, das hier im Zusammenspiel von Kultur und Natur entsteht. Ohne ihre Einführung wäre uns Winterspaziergängern diese Art von Symbiose von Gräsern, Kräutern, Mahd, Vögeln, Insekten und Obstgehölzen verborgen geblieben (siehe auch https://commonviews.art/to-make-a-garden-wilder-than-the-wild/).
Aktuell wurde das Übereinkommen über die biologische Vielfalt Ende 2022 neu verhandelt. Die internationale Gemeinschaft hat sich zum (nicht rechtlich verbindlichen) Ziel gesetzt, dass bis 2030 mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresflächen unter Schutz gestellt werden. Die Aussterberate von Arten soll bis 2050 auf ein Zehntel verringert werden. Seit der Entstehung der Biodiversitätsschutz-Konvention vor 30 Jahren, konnte das Artensterben nicht verlangsamt werden. Die Perspektive der Naturrechte hat es noch nicht in das Abkommen der Weltgemeinschaft geschafft. Einige Juristen, Indigene, Philosophen, Natur- und Humanwissenschaftler sowie Künstler und weitere transdisziplinäre Forscher haben ein inklusives Verständnis von Natur, das die intrinsischen Werte der Lebendigkeit in den Vordergrund stellt. Die Biosphäre ist darauf ausgelegt, die Bedürfnisse aller Lebensformen zu decken. Das Existenzrecht sollte keiner Art verwehrt werden.
„Die Beziehung zwischen Mensch und Natur könnte klarer nicht sein: das Überleben des Menschen ist von der Biosphäre, von der er auch ein Teil ist, komplett abhängig.“
Ein mehr-als-menschlicher Austausch: sphärisch, ökologisch, kulturell
Das Ausmaß der Aufgaben und des Ungewissen bringt mich aus dem Konzept. Nach einem Fokus suchend, drehe ich den Lindenpropeller zwischen meinen Fingern. Ich halte inne und betrachte die Details der Konstruktion. Von der zentralen Achse des Stängels, der genau senkrecht in der Luft zu stehen scheint, geht am oberen Ende ein helles, flügelartiges Tragblatt ab. Von der Mittelachse nach unten schauend, bildet das unterste Ende eine kleine Kugel, die an ein Senkblei erinnert. Ich schlage Wissenswertes nach: „Die Früchte werden mit dem Tragblatt vom Wind abgerissen und drehen sich wie Kreisel in der Luft.“ Exakt. Weiter im Text: „Im Mittelalter stellten Dorflinden das Zentrum des dörflichen Lebens dar“ [13]. Gerichtslinden. Tanzlinden. Manche dieser Linden stehen noch. Der Alt-Tegeler Krummen Linde erging es jedoch anders: Sie wurde in den 1940er-Jahren entfernt. Noch 10 Jahre davor berichtete die Tagespresse von der Linde und dem Versuch, ihren krummen Stamm, der sich beinahe diagonal neigte, handwerklich abzusichern, um so ihrem Leben an der Dorfaue Tegel Bestand zu geben. Dieser Versuch ist scheinbar nicht geglückt, so dass die Krumme Linde von Menschenhand verschwand. Von dem einst berühmten Alt-Tegeler Straßenbaum bleiben immerhin alte Postkarten, Bilder und Erzählungen [14]. Inwieweit kann ein interdisziplinäres künstlerisches Projekt diese facettenreichen Geschichten von Bäumen und anderen Lebewesen in den urbanen Kontext hineintragen?
Die Ungewissheit des Überlebens wirkt in Zeiten des Artensterbens und des Klimawandels immer präsenter, bis zu lähmend. Dennoch, bei der Bestrebung, dem Unbekannten zu begegnen, ist es möglich, sich auf die Lebensweisen unserer Mitwelt und den ökologischen Verflechtungen einzulassen. Ohne es zu bemerken, tauschen die Linde und ich Kohlenstoff und Sauerstoff aus. Die Linde – wie alle Lebewesen, die fähig sind Photosynthese zu betreiben – produziert Sauerstoff. Die Existenz von Tieren, einschließlich der Menschen, Pilzen und Mikroorganismen, hängt von den autotrophen Organismen ab, die aus Sonnenenergie und Kohlenstoff Sauerstoff herstellen können. Manche betrachten die Sauerstoffproduktion als eine der Ökosystemleistungen, die die Ökonomen in Millionen Dollar umrechnen. “Ökonomie” und “Ökologie” haben dieselbe Griechische Wortwurzel oikos. Oikos bedeutet sowohl “zu Hause” als auch “Haushalt”. Wozu also den fiktiven Wert von Geld, der auf der Marktwirtschaft basiert, bemühen, um deutlich zu machen, dass beide, die Linde und die Menschheit, Teil eines Hauses sind: der einzigen Biosphäre. [15]
„Es ist an der Zeit, wissenschaftliche Erkenntnisse und künstlerische Praktiken miteinander zu verflechten, um biosphärische Erzählungen nicht nur lebendig zu machen, sondern um sie zu leben.“
Ein Platz im Schatten, ein besseres Stadtklima, Lindenblütentee und Honig lassen mich am Leben der Linde teilhaben. An manchen Orten werden die Tanz- und Dorflinden liebevoll gepflegt und die Koexistenz als eine Form der Inklusion von mehr-als-menschlichen Bewohnerinnen gelebt. Wie die Linde die menschlichen Gewohnheiten einschätzt, ob kulturell, ökologisch oder biosphärisch, ist reine Spekulation. Linden und Eichen haben eine bis zu zehnmal längere Lebensdauer als der Mensch. Paradoxerweise sieht der Mensch Bäume vorrangig als Ressource und nicht als Grundlage seiner Existenz und hat Mühe, die Positionen im Netz des Lebens zu erkennen.
Der Philosoph und Landschaftsgärtner Gilles Clement verwendet für die Biosphäre das Bild des planetarischen Gartens und lädt ein, sich freundschaftlich mit den Pflanzen und Tieren zu verbinden. Denn nur sie erhalten uns am Leben. Die biologische Vielfalt und die zahlreichen symbiotischen Beziehungen zwischen den Lebewesen sind eine Vorlage für holistische Gesellschaftsmodelle [16]. Rechtssysteme, die der Biosphäre gerecht werden, haben die Konzepte der Allmende (Commons) und die Naturrechte als Grundlage. Wirtschaftssysteme können nach den Prinzipien Abundanz, Suffizienz oder Geschenkökonomie innerhalb der planetaren Grenzen gestaltet werden.
Es ist an der Zeit, wissenschaftliche Erkenntnisse und künstlerische Praktiken miteinander zu verflechten, um biosphärische Erzählungen nicht nur lebendig zu machen, sondern um sie zu leben. In Tegel bedeutet es konkret, dass die Quartiere und Campi des TXL Areals nicht “umgeben von viel Natur“ entstehen sollten, sondern mit und als Teil der Natur.
Sina Ribak // Version 20. Januar 2023.
References
[1] https://www.tegelportal.de/das-aeronautische-observatorium-auf-dem-tegeler-schiessplatz/ aufgerufen am 27.12.2022
[2] https://berlintxl.de/ aufgerufen am 27.12.2022
[3] https://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/01/klimawandel-europa-eiszeit-nordatlantikstrom aufgerufen am 27.12.2022
[4] https://www.museum-reinickendorf.de/?hmenu=1&item=61 aufgerufen am 16.01.2023
[5] https://www.berlin.de/umweltatlas/boden/geologische-skizze/2007/kartenbeschreibung/ aufgerufen am 27.12.2022
[6] Mooratlas https://www.boell.de/de/mooratlas und https://www.moorwissen.de/index-en.html aufgerufen am 17.01.2023;
[7] Pimm & Joppa, 2015, How Many Plant Species are There, Where are They, and at What Rate are They Going Extinct?, 100/3 Annals of the Missouri Botanical Garden, 170-176.
[8] World Flora Online, http://www.worldfloraonline.org/, aufgerufen am 13.12.2022
[9] Oxford Science Blog https://www.ox.ac.uk/news/science-blog/plants-known-unknowns-which-are-undermining-conservation, aufgerufen am 13.12.2022
[10] https://nationalerbe-baeume.de/project/dicke-marie-berlin-tegel/ aufgerufen am 16.01.2023
[11] https://www.un.org/sustainabledevelopment/biodiversity/
[12] IPCC, Climate Change and Land: an IPCC special report on climate change, desertification, land degradation, sustainable land management, food security, and greenhouse gas fluxes in terrestrial ecosystems, 2019, Intergovernmental Panel on Climate Change.
[13] Margot Spohn, Marianne-Golte-Bechtle, Roland Spohn: Was blüht denn da, 60. aktualisierte und erweiterte Auflage, 2021, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH, Stuttgart.
[14] https://www.tegelportal.de/die-krumme-linde/ aufgerufen am 16.01.2023
[15] Robin Wall Kimmerer, 2022, The Serviceberry – An Economy of Abundance, Emergence Magazine, USA. https://emergencemagazine.org/essay/the-serviceberry/
[16] Gilles Clément, 2017, Die Weisheit des Gärtners, Matthes & Seitz Berlin.